Die Geschichte des Chores Schaumburger Märchensänger
In die Professionalität: 1951 – 1954
Von Wolfgang Wicklein
Die berufliche Arbeit in Obernkirchen ging weiter und die Chorarbeit war und blieb ein wunderschönes und herrliches „Nebenbei“. In der Folgezeit gab es immer mehr Auftritte rund um Schaumburg; die Konzerttätigkeit wurde bis nach Köln, sogar ins holländische Haarlem und Waddinxveen ausgedehnt. Edith Möller und Erna Pielsticker organisierten in den nächsten drei Jahren mehrwöchige Fahrten, nach Königswinter und zweimal nach Norderney. Welches Kind, welche Familie konnte sich damals so eine Reise leisten?
Die Finanzierung dieses sehr aktiven, letztlich jedoch hobbymäßig agierenden Laienchores wurde immer schwieriger. Ende 1952 war es Edith Möller und Erna Pielsticker klar, dass die Chorarbeit nicht mehr zu finanzieren war. Auch der geheime Wunsch der beiden Damen, ein eigenes Waisenhaus zu gründen, rückte in immer weitere Ferne. Als letzte Unternehmung sollte im Sommer 1953 noch eine weitere Fahrt zu den Freunden in Ipswich unternommen werden, doch dann…
Der Erfolg der ersten Englandfahrt wiederholte sich. Es gab eine Anzahl von Konzerten in Südost-England und nach zwei Wochen fuhr – auf Veranlassung der englischen „Jugendoffiziere“ – der Chor weiter nach Wales zum Llangollen International Musical Eisteddfod. Edith Möller, exzellent vorbereitet, gewann! Und die Kinder und Jugendlichen der Schaumburger Märchensänger gewannen nicht nur einen 1. Preis, sondern vor allem auch die Herzen aller Teilnehmer und Zuhörer. (Dies konnte der Autor 2013 auf Einladung des Festivals persönlich erleben: Noch heute ist dort die Begeisterung über den Obernkirchen Children’s Choir deutlich spürbar!)
Der Dichter Dylan Thomas führte 1953 als Moderator durch die Wettbewerbe und taufte die Chormädchen „Engel in Zöpfen“: „The girls from Obernkirchen sang like pigtailed angels!“
Der Erfolg und die Begeisterung waren unvergleichlich. Eine Anzahl spontaner Konzertanfragen u.a. aus Rugby, Birmingham und Coventry folgten, und die Reise musste verlängert werden.
Allgemein wird dieser Wettbewerb als der Wendepunkt in der Geschichte der Schaumburger Märchensänger angesehen, zumal dort rein zufällig auf einer der vielen Festivalwiesen ein Welthit geboren wurde: Die BBC zeichnete ein Lied von Friedrich-Wilhelm Möller auf, das binnen drei Tagen die englischsprachige und später die ganze Welt rundum kannte und liebte: Den in deutsch gesungenen „Fröhlichen Wanderer“!
1953: Maike präsentiert den 1. Preis des Llangollen International Musical Eisteddfod
Festzustellen ist jedoch: Weder Llangollen noch der Welthit waren der Wendepunkt in der Chorgeschichte, erst das Jahr 1954 sollte es werden. Aber Llangollen bewirkte allemal, dass der Chor nicht aufgegeben wurde.
Trotz des Erfolges schienen die Probleme der Chorfinanzierung nach wie vor unüberwindbar. Mutig entschlossen sich darum Edith Möller und Erna Pielsticker, auf Ediths musikalische und pädagogische Genialität vertrauend, zu einem couragierten Schritt, einem Entweder-Oder!
Erna Pielsticker fuhr noch im Herbst 1953 nach London, machte bei der damals wohl bedeutendsten englischen Konzertagentur ihre Aufwartung und schaffte es, einen Vertrag über eine 14tägige England-Konzerttournee im Frühjahr 1954 zu erhalten.
Die erste Profitournee der Schaumburger Märchensänger:
Jeden Abend ein Konzert, sogar in der Royal Festival Hall London, alle ausverkauft, vormittägliche Schallplattenaufnahmen im Studio, Radio- und Fernsehproduktionen, keine Freizeit, alles per wackligem Bus usw. Eine Prüfung auf Herz und Nieren!
Die Schaumburger Märchensänger – im Englischen unaussprechlich – eroberten England zum dritten Mal im Sturm, diesmal quer durchs ganze Land und chorisch auf professionellem Niveau.
Die Chorkinder verkrafteten diese enormen Anstrengungen und extremen Leistungen dank ihrer begeisternden Leitung mit Leichtigkeit. Edith Möllers unvergleichliches Talent, vor allem auf der Bühne den ganzen Chor quasi spielerisch zu Höchstleistungen zu motivieren, war die Garantie des Erfolgs. Ihr Enthusiasmus, ihre Ausstrahlung und Begeisterungsfähigkeit kamen hinzu. Die Chorkinder wären am liebsten immer weiter gereist, nichts wurde zu viel!
Und Singen? Das konnte sowieso nie genug sein.
Edith Möller und Erna Pielsticker verausgabten sich auf dieser Tournee bis zur Erschöpfung, und ohne ihre kongeniale Partnerschaft hätte es nicht geklappt. Das Ziel – der Wendepunkt in der Chorgeschichte – war erreicht. Die Schaumburger Märchensänger standen im professionellen Chor-Lager.
Die englische Konzertagentur war von diesem Erfolg überwältigt und nahm, um dem Chor eine größere Perspektive zu ermöglichen, das Angebot der damals wohl berühmtesten und größten Künstleragentur, Columbia Artist Management in New York an. Schon im Herbst des gleichen Jahres sollte es für sechs Wochen als „Obernkirchen Children‘s Choir“ nach Amerika gehen. Der Erfolg wurde atemberaubend!
Von Columbia wurde ein Pianist gestellt, James Benner, Professor an der Musikhochschule von Morgantown/West Virgina, der die wichtigsten Konzerte auf dem Flügel begleiten sollte. Schnell verliebte er sich in den Chor und war von Edith Möllers Musikalität fasziniert. Bis 1968 war er ständiger Begleiter auf sämtlichen weltweiten Tourneen.
In Washington D.C. begann die Tournee mit einem Konzert in der Constitution Hall. Einen Tag zuvor trafen sich die Schaumburger Märchensänger mit ihrem niedersächsischen Landesvater, Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf, auf einer herrlichen Party im Garten der Deutschen Botschaft.
Soweit bekannt, war in New York City nur ein wagemutiges Konzert in der damals wichtigsten Halle, der Town Hall, vorgesehen. Dort wurde im Vorjahr angeblich ein bekanntes deutsches Orchester ausgebuht – der 2. Weltkrieg mit all seinen Gräueln war noch sehr präsent. Das Konzert der Schaumburger Märchensänger aber wurde ein Triumph! An das eine geplante Konzert wurden innerhalb der drei folgenden Tage vier weitere Konzerte – unbeworben – nachgeschoben. Lediglich die örtlichen Radiosender hatten diese Zusatzkonzerte angekündigt – alle waren ausverkauft und Menschenmassen standen Schlange.
Sept. 1954 New York: Nach dem ersten Town Hall Concert; Menschenmassen vor dem Bus des Obernkirchen Children’s Choir
Die Konzerttournee führte den Chor weiter durch fast 20 Staaten mit insgesamt über 35 ausverkauften Konzerten, Fernseh-Shows und unzähligen Radiosendungen. Columbia Artist Management war hingerissen. Sechs Wochen dauerte diese erste Amerika-Tournee.
Columbia konnte sich vor Nachfragen nicht retten, und so wurde während der ersten Tournee schon die nächste für 1955 geplant. Die war am Abflugtag schon komplett ausgebucht und wurde noch am New Yorker Flughafen auf drei Monate verlängert.